Bleiben, wenn andere gehen

Uli Scherbel trägt zwei Seelen in sich. Die als Rampensau und Schauspieler – und die als zurückhaltender Helfer. Die Bühne hat er jetzt gegen die Arbeit in einer Palliativstation getauscht.

Wie verrückt muss man sein? Während des Kronacher Schützenfestes gab es auf der Festung zweimal „Jedermann“. Ein Drama, harte Kost. Ob da jemand kommt? Die Hauptrolle spielte Uli Scherbel. Er kommt aus Rothenkirchen, spielte live in der Fernseh-Gala des ZDF zu Udo Jürgens 80. Geburtstag und hat kurz vor seinem Nachtdienst in einer Palliativstation Zeit für ein Gespräch über die vielen Grenzen an die er stieß und die, die er überquerte.

„Mitten im Leben“ hieß die Show für Udo Jürgens damals. Uli Scherbel sang aus dem Musical „Das ehrenwerte Haus“ für ihn. Mit auf der Bühne und Backstage waren damals Otto Walkes, Helene Fischer, Jamie Cullum. „Udo war ein Macher. Und er hatte damals schon eine Ausstrahlung und Melancholie, die Menschen am Ende ihres Lebens haben“, sagt Scherbel. Es ist eine Beobachtung und ein Erleben, das eine Brücke ist zwischen seinem alten und seinem heutigen Leben, eine Brücke zwischen den beiden Seiten, die der Schauspieler und Krankenpfleger in sich trägt.

„Ich halte den Schmerz mit anderen zusammen aus.“ Uli Scherbel

Früher, das war für ihn Leben wie im Traum. „Manchmal hatte ich das Gefühl, da wäre irgendwo eine gute Fee, die alles organisierte. Es gelang einfach alles.“ Er bekam große Rollen auf den Musical-Bühnen, wurde gefeiert und weiterempfohlen. „Ich wollte kein Star sein – einfach nur jeden Auftritt gut machen“, sagt Scherbel. Das war mit viel Arbeit verbunden, die weit vor einem Freitag im April 1994 begann.

„Das war der prägendste Moment in meinem Leben“, sagt er heute. Eine Woche lang wurden an der Universität der Künste in Berlin die Bewerber geprüft und aussortiert. Mehrere hundert starteten am Montag, jeden Tag wurden es weniger. „Am Freitag stand da mein Name als einer von elf.“ Scherbel wusste, dass sich sein Leben ändern würde. „Es war in vielem auch eine Reise zu mir selbst – wer bin ich wirklich?“ Er wurde ganz bewusst an seine Grenzen geführt. „Bis ich in einer Probe einmal einen Stuhl voller Wut an die Wand schmetterte.“ Sein Lehrer war begeistert. „Auch ich habe das Böse in mir“, sagt er und lacht. Der Umgang mit Grenzen und Wesenszügen ist sein Alltag geworden. „Ich weiß, wann ich eine Maske aufhabe“, sagt er.

Beim Jedermann auf der Festung beispielsweise: „Das bin nicht ich – und doch bin ich es… Das ist der Schauspieler in mir.“ Das Ego von Uli Scherbel fuhr wie im Lift nach oben. „Zu 99 Prozent beschäftigte ich mich nur mit mir selbst“, beobachtet er. Auf der Musicalbühne musste er Schauspiel, Gesang und Tanz zusammenbringen.
All das wollte trainiert werden, jeden Tag. Scherbel wusste, dass er es schaffen kann, dass er lernen kann, zum Beispiel die deutsche Sprache. „Ich kam als fränkisch sprechender Krankenpfleger an die Universität der Künste, während die anderen schon zehn Jahre Klavierunterricht oder Ballett hatten und die Eltern selbst Musiker oder Schauspieler waren.“ Erst als ihm ein Lehrer begegnete, der perfekt zwischenSchwäbisch und Hochdeutsch hin- und herschalten konnte, wusste er: Das kann ich auch lernen. Und er lernte schnell. Es folgten der erste Preis beim Bundeswettbewerb Gesang in der Sparte Musical, sowie der Abschluss als Diplom-Musicaldarsteller mit Auszeichnung.

Der Erfolg und der Wille, ihn mit Arbeit zu erreichen, verdeckte eine andere Seite in Uli Scherbel. „Im Theater war ich eine Rampensau, im Leben war ich der zurückhaltende Typ, der gerne hilft.“ Irgendwann auf dem Weg nach oben sagte er dann Premierenfeiern ab, um zurück nach Rothenkirchen zu ziehen. Die Leute sagten: „Du bist verrückt, Uli.“ Doch das war ihm egal. Er wollte sich um seinen schwerkranken Vater kümmern. Und er begleitete ihn bis zu seinem Tod.

„Ich bin urfränkisch und gutbürgerlich aufgewachsen. Ich habe eine enge Familienbindung – die im Alter auch immer noch stärker wird“, erzählt er. So ist aus der Fürsorge für seine Eltern eine Wende in seinem Leben geworden. „Ich habe fast 30 Jahre lang auf der Bühne gestanden, war vor allem auf mich fokussiert – jetzt möchte ich auch gesellschaftlich etwas zurück geben“, sagt er. „Ich möchte etwas mit Menschen machen.“ Sein Leitsatz passt in beide Leben des Uli Scherbel. Nach über 30 Jahren stieg er wieder in der Krankenpflege ein. So wie er Hochdeutsch erst lernen musste, so wollte er auch hier noch weiter lernen und absolvierte eine Weiterbildung zum Fachpfleger für Palliativpflege, bevor er wieder in den Schichtdienst im Krankenhaus trat.

„Hier sind andere die Hauptdarsteller – ich bin bestenfalls Dramaturg oder Regieassistent“, erzählt er. In der Palliativstation geht es um die Begegnung mit Menschen und ums Aushalten. Er nimmt eine Hand, sagt auch mal zehn Minuten nichts. Er hadert mit dem Wahn, in der Pflege überall Zeit einsparen zu wollen – und er begegnet den Menschen mit „professioneller Nähe“, wie er es nennt.

Als Schauspieler hat er gelernt, aus Rollen, die er spielt, auch wieder auszusteigen. Das kommt ihm heute nach jeder Schicht zugute. „Für mich ist die Essenz: Ich halte den Schmerz mit anderen gemeinsam aus. Ich bleibe. Das stützt die Menschen.“

Die Zuschauer zu „Jedermann“ sind auf die Festung Rosenberg gekommen und geblieben. Die Aufführungen während des Schützenfests waren zweimal ausverkauft, Scherbel umjubelt. Er war sich nicht sicher, ob er von seinem neuen Beruf wieder in den alten wechseln kann, wenn auch nur für ein paar Wochen. Er konnte. Und „Jedermann“ kam dann auch zu ihm auf Station. „Dieser Patient stand mitten im Leben, ein Alphatier – und er wollte nicht akzeptieren, dass er sterben muss“, beschreibt ihn Uli Scherbel. Dann setzte er sich neben ihn ans Bett und blieb.

Von Tim Birkner | Fotos: Katrin Raabe