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von Martin Vögele von der Bauchhandlung Riemann
Ein kühner Roman über Erinnerung, Verantwortung und das Nachwirken deutscher Geschichte
Henrik Szántós Roman „Treppe aus Papier“ erzählt Geschichte einmal anders – nicht durch Menschen, sondern durch ein Haus, das sich erinnert. Seine Wände, Stufen und Dielen haben alles miterlebt: Kinderlachen, Schreie, Schweigen. Und sie wissen noch, wer hier wohnte – die Familie Thon im ersten Stock, die Sternheims im vierten.
Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen, die auf den ersten Blick nichts miteinander verbindet: Irma Thon, Jahrgang 1933, die als Kind in dem Haus aufwuchs. Ihr Vater strammes Mitglied der NSDAP, ihre Mutter eifrig die Erziehungsideale aus „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ umsetzend.
Und Nele Bittner, eine Schülerin, die Jahrzehnte später mit ihren Eltern in der früheren Wohnung der jüdischen Familie Sternheim lebt. Zwischen ihnen entwickelt sich ein Gespräch über Erinnerung und Verantwortung – über das, was man erzählen sollte, und das, was man lieber verdrängen möchte. Szántó lässt diese Stimmen ineinanderfließen. Mal poetisch, mal nüchtern, immer nah an den Dingen: das Knarren der Stufen, der Geruch alter Farben, das Echo längst vergangener Schritte. So entsteht ein literarisches Gedächtnis, das nie pathetisch wirkt, sondern still und eindringlich von Schuld und Hoffnung erzählt. Dass das Haus alles zugleich erinnert – die kleinen Alltagsszenen, das Lachen in den Fluren, die bedrohlichen Geräusche der SA-Schergen im Treppenaus, die berstenden Schaufenster, später das Schweigen – verleiht dem Roman eine besondere Spannung.
Was „Treppe aus Papier“ außergewöhnlich macht, ist, neben der besonderen Sprache, seine Wärme im Umgang mit schwierigen Themen. Irma ist keine Heldin, sondern eine Frau, die mit ihrem Schweigen und ihrer Verantwortung ringt. Nele ist neugierig und fragend, ein Gegenüber aus der Gegenwart, das wissen will, bevor es zu spät ist. Zusammen öffnen sie einen Raum, in dem Geschichte nicht fern und abstrakt bleibt, sondern persönlich, nah und berührend.
Henrik Szántó zeigt, dass Häuser mehr sind als Steine. Sie speichern Leben – glückliche Momente ebenso wie Verluste und Versäumnisse. Wer hinhört, entdeckt in ihnen Stimmen, die bis heute etwas zu sagen haben. Treppe aus Papier ist ein feiner, kluger und bewegender Roman, der nachhallt. Er lädt dazu ein, hinzuhören, Fragen zu stellen – und zu verstehen, dass Erinnerung nicht nur Last ist, sondern eine Chance, Zukunft bewusster zu gestalten.
INHALTSANGABE „TREPPE AUS PAPIER“
Das alte Haus erzählt. Denn seine Mauern, Dielen und Ritzen bewahren die Erinnerungen an alle Menschen, die es jemals bewohnt haben. Schon als Kind hat Irma Thon mit ihren nazitreuen Eltern im ersten Stock gelebt. Während die 90-Jährige zurückblickt und immer wieder an die kleine Ruth Sternheim von damals denken muss, erfreuen sie die Gespräche mit Nele Bittner aus dem Vierten. Die Schülerin lernt für eine Geschichtsklausur und beginnt zu verstehen, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist, sondern nur wenige Stufen entfernt.
VITA HENRIK SZÁNTÓ:
Henrik Szántó, geboren 1988, ist halb Ungar, halb Finne und lebt als Autor und Moderator in Hannover. Als Spoken Word-Künstler bespielt Szántó Bühnen im gesamten deutschsprachigen Raum. Seine bisherige Arbeit wurde mit Stipendien gewürdigt. Als Referent hält Szántó Seminare zu poetischem und kreativem Schreiben, Auftritt- und Vortragssicherheit und bereitet Bühnen für neue und arrivierte Stimmen. Die Kernthemen seiner Arbeit sind Mehrsprachigkeit, Erinnerungsarbeit und kulturelle Vielfalt.
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