Grenzerfahrungen – Johannes zweites Leben #47

Von Gabi Arnold | Fotos: Val Thoermer

In unserer Reihe Grenzerfahrungen erzählen Menschen ihre Geschichten. Es sind Geschichten von Niederlagen, von Krankheit oder Gefahr. Dieses Mal geht es um einen Jungen, der nur deswegen noch lebt, weil ein Mensch zur Organspende bereit war. Grenzerfahrungen

Johannes zweites Leben

Die Sonne scheint an diesem Spätsommertag. Die Hausaufgaben sind erledigt, Zeit zum Spielen. Johannes kickt im Garten Fußball. Der fröhliche und aufgeschlossene Junge liebt Fußballspielen, Computerspiele und Go-Kart-Fahren, so wie viele Jungs seines Alters. Ein ganz normaler Junge eben. Dabei hätte der 12-jährige fast keine Chance auf ein normales Leben gehabt. Eine Spenderleber kurz nach seiner Geburt aber rettete ihn.

Wir sitzen an diesem Spätsommertag im Garten von Familie Grempel. Mutter Christine denkt zurück: Im Jahr 2009 erwartet sie ihr zweites Kind, die Schwangerschaft verläuft normal, ohne Komplikationen. Der Junge kommt per Kaiserschnitt zur Welt. Wenig später erhalten die Eltern die Nachricht, dass ihr Baby krank sei und in die Coburger Kinderklinik verlegt werden müsse.
„An diesem Abend haben wir dann gewusst, dass es etwas Gravierendes sein muss“, sagt sie. Das Neugeborene wird von Coburg weiter in die Universitätsklinik nach Erlangen überwiesen, weil ein akutes Leberversagen aufgetreten ist. Als Ursache wird eine neonatale Hämochromatose diagnostiziert. Es handelt sich um eine sehr seltene Eisenspeicherkrankheit, die meist tödlich verläuft. Johannes hat nur eine Überlebens-Chance, wenn er eine Spenderleber erhält. Und dann geht es rasant.

High urgency – höchste Dringlichkeit

Johannes wird HU „high urgency“ gelistet, was bedeutet, dass er das nächste verfügbare Lebertransplantat über Eurotransplant erhalten soll. „Dann ist es Glück. Da kann keiner sagen, ob es funktioniert oder nicht“, sagt seine Mutter. Die Familie hat Glück, es wird ein passendes Organ gefunden. Der Spender ist ein junger Mann, der durch einen Unfall ums Leben gekommen ist und zur Organspende bereit war. Im Transplantationszentrum in Regensburg wird die Transplantation vorbereitet, ob sie gelingt oder nicht, vermögen die Ärzte nicht zu sagen. Die Eltern befinden sich in einem Wechselbad der Gefühle, sie schwanken zwischen Hoffen und Bangen. „Man verabschiedet sich von seinem Kind, man weiß ja nicht, ob man es lebend wiedersieht. Es
ist eine ganz schreckliche Situation.“ Die Operation gelingt, das fremde Organ arbeitet in dem kleinen Körper. Jeden Tag besuchen die Eltern ihr Kind auf der Intensivstation, immer begleitet von einem mulmigen Gefühl der Angst. „Du denkst: ‚Oh Gott, was ist heute?‘ Es ist ein sehr langer Weg“, sagt Grempel. Und oft schwirren quälende Fragen im Kopf umher. Funktioniert das Organ?
Passt die Immunsuppression? Arbeitet das Herzkreislaufsystem? „Die ersten zwei Jahre waren wir fast nur im Krankenhaus“, erinnert sich Christine Grempel.

„Mein größter Wunsch war es, einfach zu wissen, der Johannes kann Weihnachten mit mir feiern.“

Das Leben aber nimmt die Familie sehr bewusst wahr. Die Eltern sind glücklich über Dinge, die für andere Familien selbstverständlich sind: Der erste Kindergeburtstag gehört dazu oder das erste Mal einen Drachen steigen lassen. Johannes entwickelt sich trotz seiner Erkrankung ganz wunderbar. Mit drei Jahren kommt er in den Regelkindergarten, er wird normal eingeschult und besucht jetzt die Realschule CO 1 in Coburg. Heute, zwölf Jahre nach der Transplantation, geht es Johannes gut, sein Alltag ist fast normal. Er muss regelmäßig zur Kontrolle in das Krankenhaus und seine Medikamente zur Immunsuppression einnehmen. Wegen der Medikamente ist er anfälliger für Infektionskrankheiten und muss öfters mal zu Hause bleiben. Sehr gerne würde er in einem Verein Fußball spielen, aber das ist tabu, da es sich um eine Kontaktsportart handelt. Aber: „Für meine Freunde bin ich ein ganz normales Kind“, sagt er. Johannes hat überlebt, weil ein Mensch nach seinem Tod zur Organspende bereit war. Seine Mutter blickt jetzt sehr nachdenklich. Bevor sie selbst mit dem Thema konfrontiert worden sei, habe sie sich nicht groß damit auseinandergesetzt. „Ich wünsche mir, dass sich jeder mit dem Thema befasst. Organspende rettet Leben, auch das von Kindern.“

„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal selbst betroffen bin. Auf ein einmal heißt es, ihr Kind braucht ein neues Organ.“

In Deutschland stehen aktuell 9400 Menschen auf der Warteliste. Es gibt also mehr Bedarf als verfügbare Spenderorgane. Torsten Müller, leitender Oberarzt für Anästhesie und Transplantationsbeauftragter am Regiomed Klinikum Coburg, weiß, dass eine Reihe von Bedenken auftauchen, wenn es um Organspende geht. „Das eine ist, dass man befürchtet, wenn man einen Organspende-Ausweis hat, nicht mit der gleichen, medizinischen Sorgfalt behandelt zu werden wie einer, der keinen hat. Dass also alles darauf ausgerichtet sei, die Organe zu entnehmen“, sagt er und betont, dass jeder Patient, ob mit oder ohne Organspende-Ausweis, mit der Intention behandelt werde, ihn zu heilen.

Andernfalls müsse ein sehr strenges Protokoll eingehalten werden, um einen irreversiblen Hirnfunktionsausfall festzustellen. Als irreversiblen Hirnfunktionsausfall, umgangssprachlich auch Hirntod genannt, bezeichnet der Mediziner den kompletten Ausfall des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Der irreversible Hirnfunktionsausfall ist gleichzusetzen mit dem Tod des Menschen. Zwei Ärzte, ein Facharzt für Neurologie oder Neurochirurgie und ein Intensivmediziner müssen demnach den irreversiblen Hirnfunktionsausfall dokumentieren. Beide Ärzte haben mit der Organentnahme nichts mehr zu tun. Gemeinsam mit der Deutschen Stiftung für Organspende (DSO) finden laut Müller mit den Angehörigen ausführliche Gespräche statt. Denn letztlich müssen die Angehörigen mit dem Willen des Patienten, seine Organe zu spenden, einverstanden sein.

Und: „Die Organentnahme ist eine normale Operation, bei der Körper des Verstorbenen nach allen Regeln der ärztlichen Kunst verschlossen wird“, betont der Mediziner. „Die Angehörigen haben auch nach der Organentnahme noch ausreichend Zeit, sich von Verstorbenen zu verabschieden.“ Im Klinikum Coburg werden übrigens nur Organe entnommen, die eigentliche Transplantation der Spenderorgane wird in speziellen Transplantationszentren durchgeführt, wie zum Beispiel bei Johannes in Regensburg. Dieses ausgeklügelte System macht es möglich, dass Johannes heute ein fröhlicher Junge ist: „Wenn mehr Leute ein Organ spenden würden, könnten sie doch nach dem Tod noch was Gutes tun“, sagt er und spielt weiter Fußball.

Sehen Sie dazu auch die zweiteilige Reihe von iTVCoburg „Das zweite Leben.“

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