Grenzerfahrungen: Ein Leben für die Musik #62

Vom Hütejungen zum Professor

Macht doch mal eine Geschichte über den Heribert, hat Christoffer Klein gesagt. Klein arbeitet als Personaltrainer in einem Fitnessstudio in Coburg, wo Heribert Rosenthal der älteste Kunde ist. Im Alter von 94 Jahren trainiert er noch regelmäßig und hält sich fit.

Rosenthal stimmt dem Interview mit dem COBURGER zu und bittet uns in sein Haus. Gefragt nach seinem Leben, holt er ein Manuskript mit der Überschrift „Vom Hütejungen zum Professor“ hervor. Rosenthal hat seine Erinnerungen darin festgehalten und die wichtigsten Stationen vermerkt. Bei der Lektüre wird deutlich, dass bei dem alten Herrn die Musik seit seiner Geburt im Jahr 1929 im Mittelpunkt seines Lebens steht, mehr noch, dass sie ihn durch ein bewegtes fast ganzes Lebensjahrhundert getragen hat, ihm mehr als pure Existenzsicherung war, sondern Bestimmung und vor allem Halt auch in schweren Zeiten.

„Ich hatte eigentlich ein schönes und erfülltes Leben“, sagt er. Rosenthal bringt einen Faltplan und zeigt, wo er geboren und groß geworden ist. Es ist die Ortschaft Eicherhof bei Niederfischbach in Rheinland Pfalz. „Bis zum Jahr 1943 war es eine ziemlich unbeschwerte Kindheit“, erinnert er sich. Der Junge wächst behütet in einem katholischen Elternhaus mit zwei Schwestern und einem älteren Bruder auf.

Geige spielen und Rinder hüten

Als er seinen ersten Geigenunterricht erhält, ist er neun Jahre alt. Mit dem Geigenkasten auf dem Fahrrad radelt der Junge zum Unterricht, der mehrere Stunden dauert. In der verbleibenden Zeit hilft er bei der Feldarbeit und im Garten. Im Alter von zehn Jahren hütet er bei Verwandten zwölf Kühe und Rinder. Seine Leidenschaft aber gilt der Musik: In jeder freien Minute streicht er seine Geige.

„Damals gab es noch keine Ablenkung durch das Fernsehen oder Handy, aber wir fanden immer genug Beschäftigung.“

Mit zwölf Jahren beginnt er auf dem Flügelhorn seines Vaters zu blasen. „Alles, was ich bisher auf der Geige gelernt hatte, konnte ich auf der Trompete umsetzen“, sagt er. Deswegen sind der Takt, der Rhythmus und das Zusammenspiel kein Problem für den jungen Musiker. Heribert spielt fortan in zwei Blaskapellen – und er packt daheim mit an: Er hilft seinem Onkel beim Holzholen im Wald. Das Holz wird benötigt, um Silber- und Eisenerz zu schmelzen, das in den Gruben abgebaut wird.

Orchester statt Walzwerk

Nachdem er seinen Hauptschulabschluss erworben hat, steht er vor der Berufswahl. Seine Mutter wünscht sich, dass ihr Sohn eine Ausbildung in einem Walzwerk beginnt. Glücklicherweise kommt es anders. Auf Empfehlung eines Lehrers wird der talentierte Schüler zur Aufnahmeprüfung an eine Orchesterschule vermittelt. Mit einem Flügelhorn und einer Geige im Gepäck steigt der 13-Jährige in den Zug nach Weimar. „Ich kann mich noch erinnern, dass ich mich überall durchgefragt habe“, sagt er. Heribert wird in die Orchesterschule der Staatlichen Hochschule für Musik Weimar-Belvedere aufgenommen, der heutigen Franz-Liszt-Hochschule. Zunächst spielt er dort die Geige als Hauptinstrument, wechselt jedoch nach einem halben Jahr zur Trompete.

Schwere Jahre

Die Zeit ist nicht leicht für den Jungen. Das Heimweh quält ihn fernab seines behüteten Elternhauses. „Es war eine strenge, militärische Erziehung in der Staatlichen Hochschule“, sagt er. Die Schüler treten bei Kundgebungen der Reichsjugendführung auf. Sie reisen mit dem Zug ins 280 Kilometer entfernte Berlin. Rosenthal erinnert sich an den beißenden Geruch von Schutt und den qualmenden Balken nach den Luftangriffen. Dann ereilt ein schlimmer Schicksalsschlag im Juli 1944 die Familie.

Heriberts erst 16-jähriger Bruder wird bei einem Fliegerangriff durch einen Bombensplitter am Hinterkopf getötet. Die schlimme Zeit kurz vor Kriegsende in Weimar hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt, er hat die Schrecken des Zweiten Weltkriegs in seinem Manuskript dokumentiert. Und auch seinen mühsamen Weg zurück ins normale Leben: Im Jahr 1945 kehrt der junge Mann in sein Heimatdorf zurück und verdient sein Geld in einem Forstbetrieb. Kurze Zeit später erhält er für drei Jahre ein Engagement im Stadttheater in Königswinter. Später verdient er Geld als Aushilfe in Orchestern und bei Bühnenmusik dazu.

Mit 21 Jahren, nach seinem absolvierten Studium, unterschreibt er seinen ersten Vertrag als zweiter Trompeter beim Gürzenich-Orchester in Köln. Allerdings handelt es sich nur um eine befristete Anstellung. Da der Musiker beruflich vorankommen möchte, bewirbt er sich beim Landestheater Coburg und hat Erfolg.

Mit Coburg geht es aufwärts

Sein Probespiel überzeugt und er bekommt eine unbefristete Stelle als erster Trompeter; sein monatliches Gehalt beträgt 295 Deutsche Mark. Der Job bringt ihm privates Glück. In der Vestestadt lernt er seine Frau Ingeborg kennen und heiratet im Jahr 1954. Das Paar bekommt zwei Töchter. Da er am Württembergischen Staatstheater Stuttgart fast das doppelte Geld angeboten bekommt, zieht das Paar um. Es folgen Gastspiele an den Opernhäusern Berlin, München, Köln, Frankfurt am Main und Mannheim. „Ich habe namhafte Dirigenten kennengelernt“, erinnert er sich. Beruflich ist Rosenthal auf der Erfolgsleiter angekommen.

Von 1963 bis 1978 wirkt er beim Stuttgarter Kammerorchester bei In- und Auslandskonzerten sowie bei Schallplattenproduktionen mit. In diesem Ensemble musiziert er mehrfach mit dem weltbekannten, französischen Trompeter Maurice André (1933 bis 2012). Es folgen Platteneinspielungen bei der Philharmonie in Stuttgart, Solo-Auftritte, Verpflichtungen beim Süddeutschen Rundfunk zu Konzerten, Produktionen und In- und Auslandstourneen. Von 1965 bis zu seiner Pension im Jahr 1993 wird er Lehrbeauftragter für Trompete an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart und bekommt im Jahr 1984 den Professor-Titel verliehen. In all den Jahren hält er sich mit Tanzen, Joggen und Spaziergängen mit seinem Hund fit.

Die Lebensfreude bleibt bis heute

Seit vielen Jahren lebt er wieder in Coburg. Als seine Ehefrau an Alzheimer erkrankt, pflegt er sie fünf Jahre zu Hause und besucht sie bis zu ihrem Tod regelmäßig im Pflegeheim. Bis zu seinem 93. Lebensjahr hat er noch Trompete gespielt, ist in Altenheimen, auch in Vierzehnheiligen, aufgetreten. Seit einigen Jahren ist er gesundheitlich eingeschränkt. Seine Lebensfreude ist geblieben, obwohl viele Weggefährten, Freunde und Familienangehörige bereits verstorben sind. Einen Wunsch hat er für die Zukunft: „Ich möchte meinen 100-jährigen Geburtstag erleben.“ Am 20. Juni 2024 wird er 95 Jahre alt.

„Vom ehemaligen Coburger Orchester bin ich der Einzige, der noch lebt.“

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