VON KATHARINA KRAPPMANN | FOTOS: KATHARINA KRAPPMANN, FAMILIE GEHRLICH, SEBASTIAN KOLM
EIN HAUS WIE AUS EINEM ROMAN
Komm rein. Menschen aus der Region lassen uns eintreten in ihr Zuhause. Sie zeigen uns, wie sie wohnen und leben. Dieses Mal öffnen uns Elisabeth, genannt Lilli, und Jonathan Gehrlich in Marktzeuln die Tür zu ihrem Walmdachhaus aus dem Jahr 1928.
Klack – Herrenzimmer. Klack – Sprechzimmer. Klack – Wohnzimmer. Jonathan steht in der Küche. Mit seinem Handy bedient er den fast 100 Jahre alten „Pagenruf“ an der Wand. Je nachdem welches Zimmer er anklickt, fällt die entsprechende Klappe hörbar nach unten. Gemeinsam mit einer technikbegeisterten Freundin hat er die alte Rufanlage digitalisiert. „Ursprünglich befand sich in jedem Raum eine Klingel, die die Bewohner drücken konnten“, erzählt er. „So wussten die Hausangestellten gleich in welchem Zimmer ihre Dienste gebraucht werden.“
Daran erinnert sich auch Schwiegermama Susanne, die in dem Haus aufgewachsen ist: „Als Kinder haben wir uns einen Spaß daraus gemacht und sind von Zimmer zu Zimmer geflitzt, haben die Klingeln gedrückt und dann in der Küche auf der Anzeige nachgeguckt.“ Überhaupt schwärmt Susanne von ihrer Kindheit in dem großen Haus mit dem großen Garten: „Es war herrlich hier aufzuwachsen – es gab so viel Platz zum Spielen und so viele Verstecke.“
Ihre Großeltern, der Arzt Dr. Alfons Hug und seine Frau Gabriele haben das Haus 1928 gebaut. Sie errichteten es für sich und ihre fünf Kinder, außerdem entstand unter dem Dach die Arztpraxis, in der erst der Großvater und später der Vater von Susanne praktizierte. Im Bautagebuch von damals schreibt Gabriele Hug: „Das Jahr 1928 ist für uns alle von hoher Bedeutung. Endlich haben wir es dahin gebracht uns das langersehnte eigene Heim zu schaffen.“ Sie berichtet von schönstem Bauwetter: „Seit Jahren hat in diesem Sommer die Sonne es nicht so gut gemeint wie heuer und dankbar sahen wir zu ihr empor, wenn unser täglicher Weg zur Baustelle führte.“ Bei all der Freude über den Bau des Hauses lasteten aber auch Sorgen und Bedenken auf den Bauherren. Noch immer waren im Land die Folgen des verlorenen Krieges spürbar: „Die innere Zerrissenheit ist größer als zuvor und groß ist die wirtschaftliche Not der breiten Massen. In dieser Zeit ist der Bau eines Hauses, dessen Kosten auf 50 000 Mark veranschlagt sind, ein schwerer Entschluss.“ Doch der Glauben an eine Zukunft, nicht nur der der Familie, sondern des gesamten Landes, lässt Alfons und Gabriele den Schritt wagen.
2018 entscheiden sich die beiden, das Haus zu sanieren. Sicherlich ebenso ein Wagnis wie der Bau des Hauses damals. Lilli selbst ist nicht hier aufgewachsen, sondern gemeinsam mit ihrer Schwester Kati in Redwitz. Hier hatten die Eltern der beiden eine eigene Praxis eröffnet. Das Haus in Marktzeuln war nach dem Tod der Großeltern viele Jahre kaum bewohnt. Doch es zu verkaufen kam nicht in Frage – zu sehr ist die Familie mit dem Haus verwurzelt. Mit Lilli, Jonathan und Frieda hat das Haus wieder eine Zukunft bekommen.
90 Jahre später wagen es Lilli und Jonathan
Doch wo fängt man an, ein so großes Haus zu renovieren, das nicht nur rund hundert Jahre Geschichten sondern auch unzählige Dinge angesammelt hat? „Als Kind fand ich es immer auch ein bisschen gruselig“, verrät Lilli. „Möbel, Bücher, Gemälde Hier stand alles voll bis unters Dach. Überall lagen schwere Teppiche. Das hat einen erdrückt.“
Davon ist heute nichts mehr zu spüren. Lilli und Jonathan haben Licht und Leichtigkeit ins Haus geholt. Zuerst waren die ehemaligen Praxisräume dran. In die fertig renovierte Wohnung sind sie eingezogen und haben sich dann das Haupthaus vorgenommen. Eine lehrreiche Zeit, wie sie finden. Dem Paar erging es, wie es wohl jedem ergeht, der ein Haus umbaut und saniert: „Man glaubt immer, selbst kleine Arbeiten sind schnell gemacht. Und dann ist es doch nicht so einfach und alles dauert sehr viel länger“, berichtet Jonathan von seinen Erfahrungen. Neben den Leistungen von Handwerksfirmen sind weit mehr als 2.000 Arbeitsstunden in Eigenleistung in das Haus geflossen. Auch der große Freundeskreis der beiden hat kräftig mit angepackt. „Ohne Familie und Freunde hätten wir das alles niemals geschafft“, betont Lilli. „So viele liebe Menschen haben hier all ihre Energie reingesteckt.“ Fassade erneuert, Dach umgedeckt, Drainage gelegt, Wasserleitungen und Elektrokabel neu verlegt. Da muss Jonathan lachen:
„Wir haben großzügig geplant und eine Rolle mit 500 Metern Kabel angeschafft. Am Ende waren es zweieinhalb Kilometer, die wir gebraucht haben.“ So eine Sanierung lehrt vor allem Geduld, weiß Jonathan: „Viele der Handgriffe waren nicht unbedingt anspruchsvoll, aber sie müssen eben gemacht werden.“ Und so verbringen die beiden gemeinsam mit Freunden und Familie Stunden damit, Tapeten von den Wänden und Teppiche vom Boden zu kratzen, Türgriffe zu polieren, Türrahmen und -blätter zu entlacken, zu schleifen und neu zu lackieren und vieles mehr.
Sogar heute im trüben Herbstlicht beeindruckt das Haus. Wie es hier steht, eingerahmt von alten Sandsteinsäulen und noch älteren Bäumen, selbst bald 100 Jahre alt, verspricht es still den Wunsch seiner Erbauer: „Möge [das Haus] uns, unseren Kindern und Enkelkindern eine Insel sein im brandenden Meer, ein Hort, eine Zuflucht […].“ Und nun macht bald Frieda hier die ersten Schritte. Beinahe wägt man sich in Theodor Fontanes Effi Briest.
Wie das Herrenhaus Hohen-Cremmen im Roman, ist das Walmdachhaus mit seinen lindgrünen Fensterläden und dem verwunschenen Garten Symbol für Geborgenheit und eine unbeschwerte Kindheit. „Wer kann schon behaupten im Haus seiner Urgroßeltern zu leben?“, äußert Lilli. „Für mich ist das von unschätzbarem Wert und ich wünsche mir für meine Tochter, dass auch sie hier alt und glücklich wird.“
Altes schätzen und Neues wagen
Das ist den Gehrlichs gelungen. Wie der „Pagenruf“ Vergangenheit und Moderne zusammenbringt, verbindet auch jedes Zimmer die Geschichte des Hauses mit dem Hier und Jetzt. In der Einrichtung gesellt sich Alt zu Neu. Ausgewählte Lieblingsstücke durften im Haus bleiben – wie die kunstvollen Buntglasfenster, ein alter Drogerieschrank oder das Fischgrätenparkett, das unter den Teppichen zum Vorschein kam. Herzstück ist die Küche. Maßangefertigt auf die Wünsche des jungen Paares, könnte sie nicht persönlicher sein. Elegant, schlicht und praktisch. Jonathan hat seine Durchreiche bekommen und Lilli ihren ausziehbaren Küchentisch.
Für Susanne ist es das Schönste, dass nach Jahren des Leerstands das Leben ins Haus zurückgekehrt ist. „Es war immer was los“, blickt sie zurück. Zu ihrer Zeit wohnten drei Generationen gemeinsam mit den Hausangestellten unter einem Dach. „Wir hatten oft Besuch und es wurden viele Feste gefeiert.“ Dass die Familie eine Gastgeberfamilie ist, kann man auch dem Bautagebuch entnehmen. Hier schreibt Gabriele: „[…] mögen alle, die sich als liebe Gäste in diesem Hause einstellen, sich glücklich und behaglich fühlen und recht oft den Weg zu uns zurück finden.“ Und auch die Gehrlichs haben Verwandte und Freunde gerne um sich. Platz genug ist im Haus – und am großen Esstisch.
Die Arbeit, Zeit und Liebe, die in die Sanierung geflossen sind, schenken dem Haus die besten Voraussetzungen für das Überdauern der nächsten 100 Jahre. Genug Zeit, um weitere Erinnerungen und Geschichten zu schaffen. Doch das ist ein weites Feld – um es mit Fontanes Worten zu sagen.