…EIN STÜCK KINDHEIT
Für den heutigen Betrachter ist die Seifartshofstraße einfach die Verbindung zwischen der Bahnhofstraße und der Mohrenstraße. Bestenfalls noch bekannt als Eingang zum Funkhaus Coburg. Für Rainer Jahn aber ist der Anblick des Hauses mit der Nummer acht eng verknüpft mit den ersten Jahren seiner Kindheit in den vierziger Jahren. Und noch erstaunlich lebendig.
Die Familie kommt im Jahr 1937 nach Coburg, als der Vater Friedrich, ein studierter Forstwirt, aus dem bayerischen Forstdienst ausscheidet, um in Coburg in den Reichsnährstand einzutreten. Diese nationalsozialistische Organisation war zuständig für die Versorgung der Bevölkerung, eben auch mit Holz. Sein hervorragendes Examen und möglicherweise auch seine niedrige Parteinummer werden dazu beigetragen haben, dass ihm bald ein Forstamt zugewiesen wurde. Die hübsche rote Backsteinvilla mit der Nummer acht. Im Erdgeschoss wurde gearbeitet und im 1. Stock gewohnt. Auch heute noch existiert der Balkon Richtung Bahnhofstraße, auf dem Rainer Jahn oft stand und auf den Pfiff der Nachbarin wartete, die damit signalisierte, dass sie nun Zeit für ihn hätte. Schneidermeisterin Elisabeth Will, wohnhaft in der ebenfalls von Otto Leheis gebauten Villa in der Bahnhofstraße 17, betrieb dort in ihrer großzügigen Wohnung eine Schneiderei und wurde im Laufe der Jahre eine wichtige Bezugsperson für den kleinen Reiner.
Sie selbst hatte keine eigenen Kinder. Und wann immer der Junge von nebenan auftauchte, war er der umschwärmte Mittelpunkt der schneidernden Damen. Vom Balkon aus sah man in den Garten, der zugegebenermaßen damals eine andere Aufgabe hatte. Oft genug zogen die Kinder die reifen Karotten aus den Beeten, um sie, nachdem die nasse Erde abgeschüttelt war, sofort vor Ort zu verzehren. Viele Stadtgärten waren damals Versorgungsgärten, in denen von der Kartoffel über den Salat bis hin zum Apfel alles angebaut wurde, was eine Familie in den Kriegsjahren ernähren konnte. Nach dem Krieg wurde die Backsteinvilla ein Haus voller Menschen. Das Forstamt des Reichsnährstandes wurde im Zuge der Entnazifizierung aufgelöst und Friedrich Jahn seines Postens enthoben. Die Flüchtlingsströme, die sich gerade auch ins Coburger Land ergossen, machten es im Zuge der Wohnraumzwangsbewirtschaftung erforderlich, dass die Menschen zusammen rückten. Und das taten sie auch – gewollt oder ungewollt. Bis zu 20 Personen wohnten in diesen Jahren in dem Haus in der Seifartshofstraße. Trotz aller Enge und Unannehmlichkeiten – die Menschen waren froh, den Krieg überlebt und ein Dach über dem Kopf zu haben und die Kinder spielten zusammen im Garten und auf der Straße. Von dem Mangel an vielem, was den Alltag für uns ganz selbstverständlich macht, ist dem kleinen Rainer in Erinnerung geblieben, dass er im Winter mit Socken, Pullover und Jacke ins Bett gesteckt wurde. Aufgrund der Wassersperre bewahrten die Menschen zudem die gefüllten Eimer in den Häusern auf. Es war nichts ungewöhnliches, daß die Behälter am nächsten Morgen eine dicke Eisschicht aufwiesen. Ganz besonders in dem schlimmen Winter 1946/47, in dem wochenlang eisige Minustemperaturen der ohnehin schon leidenden Bevölkerung zu schaffen machten.
Einmal haben die Geschwister Jahn sogar freiwillig auf das auch mit Lebensmittelmarken nur schwer zu bekommende Fleisch verzichtet. Auf dem bereits erwähnten Balkon im 1. Stock wohnte seinerseits ein weißer Karnickelbock, den die Kinder auch hin und wieder jagten. Wenn es ihm zu viel wurde, schlüpfte er deswegen unter die Bretterkonstruktion. Bis er eines Tages einfach nicht mehr auftauchte. Lange wurde der Spielgefährte gesucht. Als am Silvesterabend 1947/48 jedoch ein prächtiger Braten von zweifelhafter Herkunft auf dem Tisch der Familie stand, verging den beiden Kindern der Appetit auf Fleisch. Die damals im Dachgeschoss einquartierte Familie Korge aus Ostpreußen war es dann, die sich über den unverhofften Braten freuen durfte.
Längst ist der Bretterboden des Balkons im 1. Stock renoviert. Wie auch das ganze Gebäude, in welchem auf behutsame Weise altes Gemäuer und moderne Technik unter einen Hut gebracht werden konnte. Hier winken keine Kinder mehr zu den Nachbarn hinüber. Heute dient der besagte Balkon und die grüne Oase hinterm Haus den Menschen die hier arbeiten als Ort, die Mittagspause entspannt zu verbringen. Seit 1985 beherbergt die Villa vom Erdgeschoss bis ins Dach hinauf die Büroräume der Werbeagentur Müller, die hier, mitten in der Stadt und doch ruhig gelegen, ihre kreativen Ideen in die Tat umsetzt.
Autorin: Heidi Schulz-Scheidt
Bildquelle: Sebastian Buff