Interview mit dem Coburger Professor Dr. Jochen L. Leidner
Neugier. Wissbegierde. Spieltrieb. Eigenschaften, die vor allem in einer Branche als Einstellungsvoraussetzung gelten: in der Wissenschaft. Der dauernde Erkenntnisgewinn, das Streben nach neuen Informationen, das Suchen nach dem Wesen der Dinge treibt Forschende an – Neugier ist eine zutiefst menschliche Eigenart. Oder können auch Computer neugierig sein? Wir haben uns dazu mit Prof. Dr. Jochen L. Leidner unterhalten, Professor für künstliche Intelligenz in der Versicherungswirtschaft an der Hochschule Coburg und Gastprofessor für Datenanalyse an der University of Sheffield.
COBURGER: Wieviel Neugier treibt Sie persönlich an?
Leidner: Neugier ist ganz wichtig, wenn man Forscher werden und als Forscher arbeiten will, und das wollte ich schon immer. Neugier ist in der Forschung ganz einfach der Treiber hinter der Arbeit, die ja eigentlich eher etwas Spielerisches hat. Dieses fast schon Kindliche, dieses immer Nachfragen, alles wissen wollen, das muss man sich auch erhalten, wenn man gute Forschung machen will. Und dass ich nach 20 Jahren in der Industrie meine Begeisterung für die universelle Maschine Computer akademisch ausleben und damit meinen Lebensunterhalt bestreiten kann, das erfüllt mich sehr.
COBURGER: Wie definiert sich eigentlich künstliche Intelligenz?
Leidner: Künstliche Intelligenz (KI) ist ein großer Teilbereich der Informatik neben vielen anderen. Heute wird manchmal Künstliche Intelligenz gleichgesetzt mit maschinellem Lernen, auch wenn das eigentlich nicht stimmt: Maschinelles Lernen ist einer von vielen Teilbereichen der künstlichen Intelligenz neben Computerspielen, Suche/Operations Research, Planung, Wissensrepräsentation, Wissenserwerb, automatischem Theorembeweisen, Schließen und Folgern, Sprachverarbeitung, Robotik und anderen. Der Grund, weshalb maschinelles Lernen zurzeit so im Vordergrund steht ist, dass es darin in der letzten Dekade enorme Fortschritte gegeben hat, was wiederum an mehreren Faktoren liegt: Neuen Verfahren, die entwickelt wurden, großen verfügbaren Datenmengen sowie schnellen Computern dank Grafikkarten, die eigentlich für Computerspiele entwickelt wurden, die aber jetzt ebenso in der Forschung eingesetzt werden.
„Neugier ist in der Forschung ganz einfach der Treiber hinter der Arbeit, die ja eigentlich eher etwas Spielerisches hat.“
Generell wird oft definiert, dass KI bedeutet, wenn Computer Aufgaben übernehmen, für deren Erledigung wir dachten, es sei Intelligenz erforderlich. Nun gibt es Leute, die sagen, wir haben das jetzt automatisiert, also stellte sich heraus, man braucht ja doch keine Intelligenz dafür, denn die Maschine kann das ja machen. Andere Leute sagen, wir haben es geschafft, die Maschine (etwas) intelligenter zu machen. Das ist nicht nur eine begriffliche Frage. Wir unterscheiden zwischen der starken KI-These, das sind die Leute, die überzeugt sind, eine Maschine könnte jemals prinzipiell intelligent sein, und der schwachen KI-These, welche sagt, dass Verhalten, welches man intelligent nennen würde, wenn es Menschen aufzeigten, auch bei Maschinen „intelligent“ genannt werden darf (interessierte Leser mögen John Searle lesen). Ich selbst glaube nicht an die Starke KI-These, deren Vertreter auch an eine generelle künstliche Intelligenz glauben im Gegensatz zu hochspezialisierten Systemen, die Schach spielen können oder Sprache erzeugen können oder Musik generieren, aber nur jeweils eine dieser Aufgaben pro Programm, und ohne Hinweis auf ein „Maschinenbewusstsein“.
COBURGER: KI klingt eben immer ein wenig nach Science-Fiction, nach Visionen, aber tatsächlich bestimmt sie unser aller Alltag, und das erzeugt natürlich auch Ängste, verstehen sie das?
Leidner: Also KI ist keine Magie. Die Leute, die sich da auf Kongressen treffen, kennen sich mit Informatik aus, mit Statistik, mit Regression, also mit der Entwicklung von Modellen, von Zusammenhängen, und keiner davon trägt einen Zauberstab. Ich warne vor anthroposophischen Metaphern, vor einer Vermenschlichung des Computers, das ist nicht angebracht. Man sollte Maschinen nicht zuschreiben, was sie momentan nicht können und vielleicht nie können werden. Letztlich sind Computer Metamaschinen, grenzenlos einsetzbare Werkzeuge, die uns dienen (sollten). Da kann ich die Menschen also beruhigen. Ob ich ihnen die Angst damit nehmen kann, liegt natürlich auch daran, ob sie mir glauben. Einige Sorgen sind aber auch angebracht. Wenn z.B. in absehbarer Zeit viele Fernfahrerjobs durch selbstfahrende LKW verloren gehen könnten, dann erzeugt das natürlich Ängste bei Berufskraftfahrern, weil ihre finanzielle Existenz, aber auch ihr Selbstwertgefühl, ihr Stolz, ihr soziales Umfeld verloren gehen. Wie alle Werkzeuge, z.B. auch ein Küchenmesser, können natürlich auch Maschinen nicht nur helfen, sondern auch zu einer Bedrohung werden. Da stellen sich dann völlig andere gesellschaftliche Fragen bis hin z.B. zu der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens, das unabhängig von Erwerbstätigkeit bezahlt wird. Und die Verkettung komplexer Systeme miteinander kann – Intelligenz beiseite – zu unvorhersagbarem Verhalten und Fehlern führen; da bleibt es wichtig, dass wir Menschen Systeme bauen, in denen wir Menschen noch korrektiv eingreifen können.
COBURGER: „Literatur von Maschinen“ hieß kürzlich eine Veranstaltung von Ihnen. Sind Computerprogramme bald die besseren Autoren?
Leidner: Ich bin da sehr skeptisch. Computer modellieren keine Geschichten, keine Personen und wie sie sich entwickeln. Da haben sie einen großen Nachteil gegenüber Autoren, die immer – selbst, wenn sie noch nicht wissen, wo eine Geschichte hinführt – Charaktere im Kopf haben, eine grobe Handlung, ein Thema, die Moral von der Geschichte. Das ist bei KI nicht möglich, die orientiert sich immer an einer Schablone. Aber Computer können Autoren mehr helfen als bisher, mehr assistieren. Wir haben schon die Rechtschreibkorrekturen und auch stilistische Vorschläge, die von Programmen gemacht werden. Das funktioniert und ist hilfreich für Kreative; da wird sich sicher noch mehr tun. Wir sollten Künstliche Intelligenz mehr als unsere Assistenten begreifen, nicht so sehr als unseren Ersatz, sonst würden wir uns ja auch selbst überflüssig machen.
„Neugier ist in der Forschung ganz einfach der Treiber hinter der Arbeit, die ja eigentlich eher etwas Spielerisches hat.“
COBURGER: Sind wir in Deutschland neugierig genug?
Leidner: Als Gesellschaft müssen wir immer verantwortungsvoll entscheiden, was wir umsetzen, wie wir die Zukunft gestalten wollen. Es stellt sich immer die Frage, welcher Grad an Automatisierung erlaubt uns ein menschenwürdigeres Leben. Darum geht es. In Sachen Digitalisierung haben wir da sicherlich einiges verpasst. Spätestens Corona hat das gezeigt, und uns zum Aufholen gezwungen – plötzlich ging dann in Wochen, was jahrzehntelang als unmöglich abgetan wurde. Der Vorteil: Ich würde mir wünschen, wir wären dauernd so schnell, nicht nur wenn es „brennt“, denn eigentlich brennt es seit 20 Jahren. Die meisten Schulen in den meisten Bundesländern haben immer noch nicht die Ausstattung an Geräten und Lehrern, die nötig wären. Trotz dieses kurzzeitigen Fortschritt-Sprungs scheint mir Deutschland nicht agil und – bezogen auf Ihre Frage – auch nicht neugierig genug, Kinder haben wenige Rechte, wichtige Entscheidungen werden nur von – zumeist älteren – Erwachsenen getroffen.
COBURGER: Kann ein Computerprogramm neugierig sein?
Leidner: Wenn ein Computer irgendwann anfängt, Fragen zu stellen, mit denen er nicht nur ein Programm abspielt, sondern mit denen er überrascht, wenn er also etwas tut, was man nicht vorhersagen kann, auch nicht die Entwickler, dann würde mich das überzeugen, dass er auch auf eine Art neugierig sein kann, dass er selbst einen modellierten ,„Drang“ nach Wissen entwickelt. Das wäre aber ,immer noch ein beschränktes Konzept von Neugier, wenn dem nicht die kognitiven Prozesse zugrunde liegen, die sich in unserem Kopf abspielen; unser Gehirn ist immer noch ein großes Geheimnis, eine Black Box.
COBURGER: Was wollen Sie noch erleben, worauf sind Sie noch neugierig? Leidner: Ich möchte zum einen in meiner Profession Forschung betreiben, die dazu beiträgt, dass sie wissenschaftlich wie real positiv wirkt. Wenn sie mich vor der Pandemie gefragt hätten, wäre das andere, dass ich sehr gerne reise, aber aus Verantwortung werde ich das anders handhaben und reduzieren. Außerdem würde ich am liebsten noch viele tausend Bücher lesen, natürlich meinen Sohn gut aufwachsen sehen, und irgendwann in dem guten Gewissen sterben, dass er und etwaige Nachkommen in einer Umwelt leben, die noch lebenswert ist: Die Luft, das Wasser, unser Miteinander. Alles das müssen wir wieder in den Griff bekommen. Da haben wir die Erde nicht gut behandelt, und der Raubbau läuft auch in der Gegenwart gerade weiter, leider.
VITA
PROF. DR. JOCHEN L. LEIDNER
- Seit 03/2021 Forschungsprofessur „Erklärbare und verantwortungsvolle Künstliche
Intelligenz im Versicherungswesen“ an der Hochschule Coburg - Seit 2017 Gastprofessor für Data Analytics, University of Sheffield, Abteilung für In-formatik
- 2008 – 2021 Wissenschaftler, dann Forschungsdirektor R&D, Thomson Reuters-Konzernfamilie
- 2010 – 2013 Aufbau eines Innovations-Teams in Zug, Schweiz
- 2013 – 2021 Aufbau und Leitung eines angewandten Forschungs- und Entwicklungs-Teams
in London, Großbritannien - 2007 Promotion in Informatik, Universität Edinburgh als DAAD-Stipendiat
- 2002 M.Phil. Computer Speech, Text and Internet Technologies, Universität Cambridge
- 1998 – 2000 Softwareentwickler, SAP AG
- 1998 M.A. Computerlinguistik, Anglistik, Informatik an der FAU Erlangen-Nürnberg
- 1993 – 1998 Studium an der FAU Erlangen-Nürnberg und der Lancaster University als DAAD-Stipendiat